Studia Osteoarchaeologica 9
Viele Frauen und Kinder, aber wenig Männer.
Zur jüngerbronzezeitlichen Bevölkerung von Daverden.
Göttingen 2024. 176 Seiten.
Summary see below
Das Gräberfeld von Daverden (Kreis Verden/Niedersachsen) datiert in die späte Bronze-/frühe Eisenzeit (1040 – 870 v. Chr.). Es wurde archäologisch vollständig erfasst. Daher bietet sich hier gegenüber den meisten untersuchten Bestattungsplätzen der Vorteil, eine Bevölkerung nicht nur in Ausschnitten, sondern in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Die menschlichen Leichenbrände werden gemäß osteoarchäologischem Ansatz nach den gängigen naturwissenschaftlichen Methoden untersucht. Insgesamt werden 255 Individuen ermittelt, die aus 233 Einzel- und elf Doppelbestattungen stammen. Die Befunde der Daverdener Serie werden im Rahmen von 273 europäischen Bevölkerungen des Zeitraumes von 1300 – 500 v. Chr. verglichen, wobei den Stichproben aus der geographisch definierten norddeutschen Tiefebene eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Die genannten 255 Individuen schlüsseln sich in 28 Männer, 76 Frauen, 143 Kinder und fünf geschlechtsunbestimmte Erwachsene auf. Bei drei weiteren Bränden ist eine Bestimmung nicht möglich. Das durchschnittliche Gewicht der Leichenbrände beträgt – ohne Verunreinigungen – 499,7 Gramm. Auch wenn es stark vom Erhaltungszustand der Urne abhängig ist, fügt es sich unauffällig in die Befunde der Vergleichsbevölkerungen ein. Das durchschnittlich höhere Brandknochengewicht der Männer entspricht den allgemeinen Beobachtungen. Bei den Frauen wird eine deutliche Abnahme des Leichenbrandgewichtes mit steigendem Alter beobachtet, die auf postmenopausische Osteoporose zurückzuführen ist.
Auffällig ist bei den Daverdener Erwachsenen der höhere Anteil der gestorbenen Frauen: Fast zweieinhalb Frauen entfallen zahlenmäßig auf einen Mann. Dieses Verhältnis ist bei den 20- bis 39-Jährigen noch deutlich ausgeprägter. Der im Vergleich zu den meisten anderen Stichproben hohe Anteil der Kinder schlägt sich in der geringen Lebenserwartung eines Neugeborenen nieder: Sie beträgt – bei Berücksichtigung weniger im Material fehlender Kleinstkinder – 21,61 Jahre. Jedes fünfte neugeborene Kind erlebt nicht mehr seinen ersten Geburtstag. Mehr als zwei Fünftel überleben nicht die ersten fünf Lebensjahre und deutlich mehr als die Hälfte erreicht nicht das Erwachsenenalter. Diese Werte sind für prähistorische und frühgeschichtliche Zeiten jedoch nicht ungewöhnlich. Unter Bezug auf die an subrezenten Bevölkerungen gewonnenen Daten der UN-Modellpopulationen gleicht die Alterszusammensetzung der jüngerbronzezeitlichen Daverdener dem dort schlechtesten Niveau 40. Die Vergleichsbevölkerungen hingegen ähneln im Mittel dem günstigeren UN-Niveau 36. Die schlechteren Verhältnisse in Daverden sind vor allem dem hohen Anteil verstorbener Kinder geschuldet. Die 20-jährigen Frauen hatten im statistischen Durchschnitt die Aussicht weitere 22 Jahre zu leben, während es bei ihren männlichen Altersgenossen vier Jahre mehr waren. Diesen Unterschied ausschließlich auf die höhere Belastung durch Geburten zurückzuführen, ließe die Tatsache außer Acht, dass junge Männer auf dem Gräberfeld unterrepräsentiert sind.
Aus der Anzahl und Verteilung der im Gräberfeld Bestatteten wird der Versuch unternommen, eine lebende Bevölkerung zu rekonstruieren. Von dem Phänomen einer Überalterung ist die Bevölkerung des jüngerbronzezeitlichen Daverden weit entfernt, obschon mehr als die Hälfte aus Kindern und Jugendlichen besteht und die jungen Erwachsenen ein Drittel stellen, während nur wenige Senioren (≥ 60 Jahre) anzutreffen sind. Während einer angenommenen 180 Jahre dauernden Nutzung des Gräberfeldes besteht die Bevölkerung aus 32 gleichzeitig lebenden Individuen. Zur Aufrechterhaltung der Gruppengröße sind fünf Kinder pro Zeugungseinheit erforderlich.
Damit die ermittelten Befunde keineswegs nur für sich stehen, werden sie gemäß osteoarchäologischem Ansatz nicht nur mit jenen der Bevölkerungen der norddeutschen Tiefebene sowie des restlichen Europas verglichen, sondern es wird oftmals die jeweilige diachrone Entwicklung aufgezeigt. Forschungsgeschichtlich weitgehendes Neuland wird mit der zusammenfassenden multivariaten Betrachtung ausgewählter demographischer Parameter betreten. Dabei ergibt sich, dass die Bevölkerung von Daverden in ihrer demographischen Zusammensetzung deutliche Ähnlichkeiten nicht nur zu ihren unmittelbaren Nachbarn, sondern auch zu zeitgleichen Bevölkerungen des nördlichen Holsteins und – erstaunlicher Weise – des südöstlichen Brandenburgs bestehen. Die Interpretation des Gesamtbefundes ergibt eine Bevölkerung, deren junge Männer sich rund 20 Jahre als Wander-/ Gastarbeiter anderweitig verdingten und dann – sofern sie nicht in der Fremde verstarben – nach Daverden zurückkehrten. Auch ist es nicht abwegig, ein zweites Gräberfeld im Umfeld zu vermuten, auf dem vorrangig, aber nicht ausschließlich die Männer bestattet wurden. – Mit der Vorlage der Untersuchungsergebnisse der menschlichen Leichenbrände von Daverden wird eine weitere jüngerbronzezeitliche Population aus Niedersachsen fassbar. Es bleibt zu hoffen, dass weitere Arbeiten aus den nördlichen Landesteilen sowie aus dem Weser-Ems-Gebiet folgen mögen.
Many women and children, but few men. The Late Bronze Age population of Daverden.
Summary
The cemetery of Daverden (district of Verden/Lower Saxony) was recorded archaeologically in its entirety. Therefore, compared most of the investigated burial sites, this series offers the advantage of recording a population not only in sections, but in its entirety. The cemetery of Daverden dates to the Late Bronze/Early Iron Age (1040 - 870 BC). In the research presented here, human cremation burials are examined according to the osteoarchaeological approach using standard scientific methods. A total of 255 individuals were identified from 233 single and eleven double burials. The findings of the Daverden series are compared in the context of 273 European populations of the period 1300 - 500 B.C., whereby special attention is paid to the samples from the geographically defined North German Plain. The 255 individuals of Daverden break down into 28 males, 76 females, 143 children, and five adults whose gender could not be determined. Three further cremations did not provide assessable data. The average weight of all cremations - without impurities - is 499,7 grams. Although it is strongly dependent on the state of preservation of the urn, this finding is in line with data from comparative burials. The higher average burnt bone weight of the men corresponds to the generally accepted observations. In women, a marked decrease in cremation weight with increasing age is observed, which can be attributed to postmenopausal osteoporosis.
The higher proportion of adult women in Daverden is striking: Numerically, almost two-and-a-half women were identified for each man. This ratio is even more pronounced among the 20- to 39-year-olds. The high proportion of children compared to most other samples is reflected in the low life expectancy of a newborn child, amounting to 21.61 years when taking into account a small number of very young children that were missing in the material. Every fifth newborn child does not live to see its first birthday. More than two fifths do not survive the first five years of life and significantly more than half of the children do not reach adulthood. However, these values are not unusual for prehistoric and early historic times. With reference to data of the UN model populations obtained from subrecent populations, the age composition of the Late Bronze Age/Early Iron Age Daverdeners resembles the worst level 40. The comparison populations, on the other hand, resemble on average the more favourable UN level 36. The lower value in Daverden is mainly due to the high proportion of children who died. On average, 20-year-old women have the prospect of living another 22 years, while their male peers have four years more lifespan. To attribute this difference exclusively to the risks of pregnancies and birth giving would ignore the fact that young men are underrepresented in the cemetery.
An attempt is made to reconstruct a living population based on the number and distribution of the burials in the cemetery. The population of the late Bronze Age/early Iron Age Daverden can by no means be linked to an overly aged population. More than half of the population consisted of children and adolescents and one third of young adults, while only a few senior citizens (≥ 60 years) were found. During the 300 years of using the cemetery, the population is likely to have comprised 32 individuals living at the same time. To maintain the group size, five children per procreation unit are required.
In order to ensure that the findings do not only stand on their own, they are not only compared with those of the populations of the North German Plain and the rest of Europe, but the respective diachronic development is often shown. In terms of research history, this research breaks new ground with the summarised multivariate observation of selected demographic variables. The results show that the demographic composition of the population of Daverden is very similar not only to that of its immediate neighbours, but also to the contemporaneous populations of northern Holstein and - surprisingly - of south-eastern Brandenburg. The interpretation of the overall findings reveals a population whose young men hired themselves out elsewhere as guest workers for about 20 years and then they returned to Daverden. It is also not unreasonable to assume that there was a second cemetery in the vicinity, where primarily, but not exclusively, men were buried. – With the presentation of the results of the investigation of the human cremation remains from Daverden, another Late Bronze Age to Early Iron Age population from Lower Saxony becomes graspable. It is to be hoped that further work from the northern parts of this state as well as from the Weser-Ems region will follow.
Keywords: Daverden, osteoarchaeology, Late Bronze Age, Early Iron Age, human cremation, demography, sex ratio, mortality, life eypectancy, living population,
double burial, multiple burial, demographic interaction